3. Teil Kathi – Auf der Berghütte

Auf der Berghütte

Mit jedem Schritt, den Kathi weiterging, wurde sie freier und freudiger. Der Abschied verblasste in ihrer Erinnerung, und selbst, wenn sie daran denken wollte, es fiel ihr nichts ein. Wie ein Nebel oder eine graue Wand stand etwas zwischen der Erinnerung und dem jetzigen Augenblick. So ließ sie es gut sein und ging freudig weiter bis zur Berghütte. Dort angekommen, fand sie schon alles liebevoll vorbereitet, und so setzte sie sich auf die Bank vor der Hütte und genoss die herrliche Aussicht.
Kaum merklich veränderte sich ihr Blickfeld, und sie nahm erst schemenhaft, dann aber immer klarer ein anderes Bild wahr. Ein wunderbares Wesen, schön und mit einer so liebevollen Ausstrahlung, dass Kathi nicht müde wurde, es anzuschauen. Ja, sie kannte dieses Wesen, es kam ihr so vertraut vor, aber woher? Auf einmal traf sie es wie ein Schlag, das war sie, nur viel schöner, weiser, leuchtender. Sie schaute und suchte, wo denn nun der Unterschied genau liege, was machte dieses Wesen so anders? Im Stillen überlegte sie, wenn ich alles ändere, was ich an Unterschied feststelle, dann bin ich wie dieses Wesen, denn so, das spürte sie in ihrem Inneren, so wollte sie werden.
Das Wesen in ihrer Vision saß aber nicht still da, sondern unternahm die verschiedensten Dinge. Einmal formte es eine Vase, und als Kathi genau hinschaute, sah sie, dass das Material aus lauter verschiedenen, farbig leuchtenden Pünktchen bestand. Diese Leuchtpunkte formten sich nahezu von allein, das Wesen musste sich gar nicht anstrengen, obwohl es die Hände so bewegte, als würde es den Ton kneten. Kathi beobachtete noch etwas. Die Leuchtpunkte kamen aus kostbaren Truhen, sieben Stück zählte sie und jede war gefüllt mit diesen Atomen, so nannte sie die Leuchtpunkte für sich. Als das Wesen mit seiner Vase zufrieden war, stellte es diese hin und freute sich an seiner Schöpfung. Das dauerte eine Zeit, dann klatschte es vor Freude in die Hände, und schon löste sich die Vase in tausende Atome auf, die es wie von Geisterhand selbständig wieder in die Truhen zurückzogen, genau nach Farben sortiert. Alle sieben Truhen waren wieder voll bis an den Rand, und jede Truhe verbreitete ein wunderbares Licht.

Die erste Truhe strahlte ein feuriges Rot aus, und außen war die Truhe mit Edelsteinen besetzt. Kathi schaute genau und erkannte, dass es Granat, Rubin, Jaspis, roter Achat und rote Koralle waren. Auch in diesen Edelsteinen funkelten die roten Leuchtatome.

Die zweite Truhe strahlte ein leuchtendes Orange aus, und die Edelsteine, die diese Truhe verzierten, waren Karneol, Orangencalcit und Mondstein.

Die dritte Truhe strahlte goldgelb, und die Edelsteine waren Tigerauge, Bernstein, Goldtopas und Citrin.

Die vierte Truhe strahlte überwiegend grün, doch auch rosa und goldene Töne waren zu finden. Aventurin, Jade, Rosenquarz und Smaragd waren in die Truhe eingearbeitet.

Die fünfte Truhe verbreitete ein hellblaues Licht und Türkis, Aquamarin und Calcedon verzierten diese Truhe.

Die sechste Truhe leuchtete in einem kräftigen Indigoblau, und Lapislazuli und Sodalith schmückten diese Truhe.

Die siebente Truhe warf violette, weiße und goldene Lichtstrahlen in den Raum. Bergkristall und Amethyst fanden bei den Verzierungen Verwendung.

Das Leuchten und die Kraft, die von den sieben Truhen ausging, waren so stark, dass sie es fast körperlich wahrnehmen konnte, jede Farbe in einem anderen Körperbereich.

Das Wesen in ihrer Vision fing bald darauf wieder an, etwas Neues zu formen, dieses Mal war es ein riesiger Park mit kleinen Seen und vielen Pflanzen und Tieren. Als es mit allen zufrieden war, klatschte es wieder in die Hände, und alle Farbatome zog es in die Truhen zurück.

Dann fing das Wesen an, wunderschöne, kleine Schmuckstücke zu erschaffen, diese gefielen ihm scheinbar so gut, dass es nicht in die Hände klatschte, um sie wieder aufzulösen, sondern es ließ alle, fein säuberlich hingestellt, weiter existieren. Dann schuf es wieder neue Dinge, und auch diese wurden zu den schon bestehenden gestellt.
Mit der Zeit wurden die Truhen mit den Leuchtatomen immer leerer, und von den feurig roten Atomen war nur noch eines vorhanden. Gerade jetzt arbeitete das Wesen an einer Brosche, in die drei Steine eingesetzt werden mussten, rote, aber es gelang nicht mehr. Das Wesen ging zur Truhe und sah, dass diese nun leer war, wendete sich um und betrachtete all die vielen Dinge, die es erschaffen hatte, gleichsam um zu kontrollieren, ob wirklich alle roten Leuchtatome verbraucht wären. Es waren alle, wirklich alle, eingearbeitet in die verschiedensten Schöpfungen. Das Wesen hielt inne, und Kathi spürte, wie ein inneres Ringen bei dem Wesen bestand, was aufgelöst werden sollte, damit wieder Atome frei würden. Jedes einzelne Stück war ein Kunstwerk, unvergleichlich schön und von einer Strahlkraft, die ausgereicht hätte, um auf der Erde einen großen Saal zu beleuchten.
Immer wieder betrachtete das Wesen diese Kunstwerke und konnte sich nicht entscheiden. Plötzlich, gerade so als hätte es eine Idee gehabt, ging es zu einem Stück in das sehr viel rot eingearbeitet war, nahm die benötigten Atome weg und wendete sich wieder der momentanen Arbeit zu.
Kathi, die fassungslos alles beobachtete, glaubte zu bemerken, dass die Leuchtkraft des Stückes stark nachgelassen hätte, war sich dann aber doch nicht ganz sicher, da ja immer noch alles hell strahlte. Auch bei dem Teil, das die ausgeliehenen Atome erhalten hat, ließ das Leuchten deutlich nach. Das Wesen schien das jedoch nicht zu bemerken und fuhr fort, immer neue Dinge zu erschaffen. Nach und nach gingen immer mehr der Leuchtatome aus, und immer öfter nahm das Wesen einfach Atome von anderen Gebilden weg. Nun war es eindeutig, immer wenn Atome entfernt wurden, verringerte sich das Leuchten. Manche der Schöpfungen waren schon ganz stumpf und dunkel.
Und dann geschah noch mal etwas sehr Merkwürdiges. Ein Teil, von dem immer weggenommen wurde, war schon so wenig geworden, dass nur noch ein paar der Leuchtatome vorhanden waren. Diese nahm das Wesen und baute sie in ihr aktuelles Werk ein. Kathi dachte nun, wenn das Ding nicht mehr existiert, fangen die Atome vielleicht wieder an besser zu leuchten, aber genau das Gegenteil geschah. Die ganze Umgebung verdunkelte sich. Sie wusste sofort, dass dieses Verschwinden von Teilen in ihrem Leben gleichzusetzen ist mit dem Verdrängen ins Unterbewusste. Diese Dinge bauten dann auch die Blockaden auf, die alles dunkler werden lassen. Als sie das so erkannte, sah sie, dass es immer öfter vorkam, dass das Wesen Teile nach und nach ganz und gar als Ersatzteile verwendet hatte und nichts mehr vom ursprünglichen Teil übrig war. Jedes Mal wurde die Umgebung ein kleines bisschen dunkler, und, so beobachtete nun Kathi weiter, wurde das Wesen ihr immer ähnlicher. Auch immer trauriger wurde die ganze Spielerei mit den Atomen, und es schien auch viel anstrengender, so als ob die Lichtatome schwerer geworden wären und sich das Wesen richtig anstrengen musste, um was fertigzustellen.
Die neuen Schöpfungen waren auch nicht annähernd so schön wie die ersten aus den frischen Farbatomen. Es war ein Kreislauf, ein Wirbel, der nach unten, ins Dunkel, in die Traurigkeit führte. Das Wesen hielt immer öfter in der Arbeit inne, hatte nicht mehr den Spaß und Kathi bemerkte, dass dem Wesen nun schon Tränen über die Wangen liefen. Das war so traurig, dass auch Kathi anfing zu weinen. Kathi wusste, warum es so war, und wollte dem Wesen helfen, wieder glücklich zu werden.
Kathi nahm nun alle Kraft zusammen und schrie zu dem Wesen: „Du musst die Atome befreien!“ – „Du musst die Atome befreien!“ – immer wieder: „Du musst die Atome befreien!“ Doch das Wesen konnte sie weder sehen noch hören, sondern fing nun an, ganz bitterlich zu weinen. Kathi weinte genau so verzweifelt mit und rief immer wieder: „Du musst die Atome befreien!“ „Du musst die Atome befreien!“

Vor lauter Rufen und Weinen merkte Kathi, dass sie ganz langsam wieder in ihre normale Umgebung eintauchte, ja sie saß auf der Bank vor der Hütte und weinte und weinte. Das Bild mit dem Wesen war schon lange verschwunden, bis sich Kathi endlich beruhigen konnte. Erschöpft, traurig und leer ging sie in die Hütte, legte sich auf ihr Nachtlager und schlief sofort ein.

Traumlos war die Nacht. Als sie am nächsten Morgen wach wurde, tönte ihr ihr Schrei noch immer in den Ohren: „Du musst die Atome befreien!“ und das ganze Erlebnis war ihr sofort gegenwärtig. Hatte das Wesen am Ende der Geschichte doch wie sie ausgesehen? Hatte ihr die Vision gezeigt, was der Unterschied war zwischen ihr und dem leuchtenden Wesen am Anfang der Schau? Vielleicht nur rückwärts? Sollte es sein, dass sie ihre Leuchtatome alle gebunden hätte? Sie spielte mit diesem Gedanken den ganzen Tag, kam aber zu keinem rechten Ergebnis. Abends setzte sie sich wieder auf die Bank vor der Hütte, um den Sonnenuntergang zu genießen.

Wieder, so wie am Vortag, veränderte sich das Bild, und sie sah sich selbst neben ihrer hochschwangeren Mutter schweben. Auch die sieben Truhen mit den Leuchtatomen sah sie, nur dass diese Truhen heute alle geschlossen waren. Plötzlich setzte der Geburtsvorgang ein, und sie wurde in den kleinen Körper gezogen, der soeben auf die Welt gekommen war. Gleichzeitig hatte sich der erste Truhendeckel geöffnet, und die kleine Kathi konnte sofort mit den feuerroten Leuchtatomen umgehen. Sie merkte, dass diese roten Leuchtatome ihr die Macht gaben zu riechen, und so nahm sie ihre Umgebung als Geruchswelt wahr. Sie roch ihre Mutter, die Milch, ihr Bettchen und was sie sonst noch umgab. Um das alles wahrnehmen zu können, bildete sie sich aus den roten Leuchtatomen Formen, die sie mit den Dingen verband, die um sie waren. So erkannte sie aufgrund der roten Leuchtatome, was gerade los war, das gab ihr Sicherheit, und sie fühlte sich sehr wohl dabei.
Kathi konnte beobachten, wie nach einiger Zeit der zweite Truhendeckel aufsprang und die orangen Leuchtatome zur Verfügung standen. Sofort konnte die kleine Kathi in der Vision mit diesen Atomen umgehen, vor allen Dingen erlaubten die orangen Leuchtatome, dass sie schmeckte. Es war eine schöne Erfahrung, etwas zu schmecken, so schuf sie sich ein positives Geschmacksempfinden für den Schnuller oder auch den Daumen, um möglichst oft diese neue Erfahrung anwenden zu können. Wie herrlich schmeckt ein Daumen, wenn er erst einmal so richtig aufgeweicht ist. Auch entdeckte die kleine Kathi mit diesen Leuchtatomen ihren Körper und empfand Lust.
Die Kathi auf der Bank vor der Hütte war fasziniert von den Möglichkeiten dieser Leuchtatome auf ihr Leben, und es begeisterte sie, wie selbstverständlich die Kathi in der Vision damit umging und sich ihre Wirklichkeit schuf.
Als sie bemerkte, wie der dritte Truhendeckel aufsprang, beobachtete sie, wie die kleine Kathi damit ihre Persönlichkeit entfaltete, Gefühle verarbeitete und Macht gewann. Auch das bewusste Sehen hing mit diesen goldgelben Leuchtatomen zusammen, und so konnte sie nun ihre Umwelt nicht nur riechen und schmecken, sondern auch noch sehen. Das Leben wurde immer schöner und die Möglichkeiten, darauf einzuwirken, immer vielfältiger.
Der vierte Truhendeckel gab das grüne Leuchten frei, und damit konnte die kleine Kathi tastend ihre Umwelt wahrnehmen. Sie konnte Liebe empfinden und auch Mitgefühl. Wie ereignisreich war nun das Leben geworden.
Gerade mit diesen grünen Leuchtatomen schuf sie viele Situationen, die mit Liebe zusammenhingen, vor allem ihrer Mutter, aber auch ihrem Vater gegenüber.
Das hellblaue Licht, das aus der fünften Truhe strahlte, schenkte ihr die Eigenschaft zu hören. Damit wurde sie ein Wesen, das mit anderen Kommunikation aufnehmen konnte. Sie konnte sich über die Sprache auch selbst ausdrücken und empfand Unabhängigkeit.
Kathi studierte sehr aufmerksam, in welche Dinge sie Leuchtatome band, war ihr doch auch gleichzeitig klar, dass sie diese wieder befreien musste. Auch erkannte sie nun, dass diese Schöpfungen, die sie als Kind machte, nur Hilfsmittel waren, um Freude und Aufmerksamkeit und Liebe zu bekommen, und dass sie dies heute ganz anders machen würde.
Wie sie so ihren Gedanken nachging, wurde alles in blaues Licht getaucht. Sie suchte nach der Ursache und fand den Deckel der sechsten Truhe offen stehen. Diese Truhe musste sich erst kürzlich geöffnet haben.
Seins Erkenntnis, könnte man sagen, bewirken diese Leuchtatome, und übersinnliche Wahrnehmungen. Hatte sich dieser Truhendeckel etwa erst geöffnet, als sie auf die Hütte kam? Waren diese Visionen nicht übersinnliche Wahrnehmungen? Entdeckte sie nicht ihr ganzes Sein in den Visionen von dem Wesen gestern und auch von der kleinen Kathi heute?
Sie sah, wie sie nun durch dieses Erkennen die blauen Leuchtatome mit den Erkenntnissen verband. Wie sollte sie die blauen Leuchtatome befreien, wenn dadurch auch das Erkennen wieder verloren geht? Sie merkte, wie sie in eine Sackgasse geriet: Auf der einen Seite waren all diese Seins Wahrnehmungen so wichtig für sie, und auf der anderen Seite band sie damit Leuchtatome.
Sie kam an diesem Punkt nicht weiter, und so verblasste die Vision langsam, und sie fand sich wieder auf der Bank vor der Hütte. Es war schon sternenklare Nacht, und sie beschloss, ihr Nachtlager aufzusuchen.

Als sie am Morgen erwachte, waren ihre ersten Gedanken die blauen Leuchtatome. Und noch was kam auf sie zu, der Gedanke, was wohl mit der siebenten Truhe und den Leuchtatomen geschehen sollte? Ihre Gedanken sprangen ständig zwischen den Themen hin und her: Wie befreie ich Leuchtatome? was ist mit der Seins Wahrnehmung? Was machen die Leuchtatome der siebenten Truhe? Bis sie sich entschloss, erst einmal alles zu vergessen und eine Zeit abzuwarten. So wie es momentan in ihrem Kopf ausschaute, konnte sie zu keiner Lösung finden. Sie lenkte sich ab, ging in den Wäldern spazieren, pflückte Beeren und hörte auf die Vögel. Was sie aber auch machte: Immer sah sie, wie verschiedene Leuchtatome aktiviert wurden: Wenn sie zum Beispiel die süßen Beeren schmeckte, waren orange Leuchtatome aktiv, hörte sie den Vögeln zu, dann waren die hellblauen Leuchtatome aktiv. Immer mehr wurde ihr bewusst, dass die gesamte Wahrnehmung, die sie hatte, durch die Leuchtatome erfolgte, und noch was, die Leuchtatome hatten die Information angenommen, ob etwas schön oder weniger schön ist. Sie erkannte auch, dass diese Beurteilung mit ihren frühkindlichen Erfahrungen zusammenhing. Kann es sein, dass es auch ganz anders ist? Dass die Dinge, die sie nicht als besonders schön empfindet, trotzdem schön sind? Sollten die ersten Wahrnehmungen sie so beeinflusst haben, dass sie etwas ablehnte, was eigentlich für sie heute gut ist? Sie beschloss sofort ein Experiment zu machen. Sie pflückte eine Beere, von der sie wusste, dass sie nicht giftig ist, die aber sehr bitter schmeckt, steckte sie in den Mund und stellte sich vor, dass sie gut schmeckt. Augenblicklich lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und sie spuckte die Beere wieder aus. Der Nachgeschmack, den sie noch spürte, war dann nicht einmal so schlimm. Überwiegend an den Seiten der Zunge spürte sie den bitteren Geschmack, während die anderen Zungenbereiche nicht reagierten. Der Geschmack ließ ein etwas raueres Gefühl im Mund zurück, und es war nicht einmal so unangenehm. Sie beschloss noch einen Versuch zu machen und steckte wieder eine Beere in den Mund. Dieses Mal war es nicht so schlimm wie das erste Mal, aber als gut konnte sie die Beere nicht empfinden. Sie experimentierte noch mit vielen anderen Dingen, kam aber zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis.

Als sie sich abends wieder vor die Hütte setzte, um den Sonnenuntergang zu genießen, wartete sie, dass wieder eine Vision entstehen würde, es geschah aber nichts. Da nahm sie sich vor, einfach die Leuchtatome zu befreien, die heute keinen Sinn mehr für sie darstellten. Als erstes wollte sie die orangen Leuchtatome aus der zweiten Truhe befreien, die sie als Baby in ihren Schnuller gesteckt hatte. Den Schnuller gab es schon lange nicht mehr, also kann man ruhig diese Leuchtatome befreien. Sie holte das Bild von dem Schnuller vor ihr geistiges Auge und sagte still für sich, ich gebe diese Atome frei. Es geschah nichts. Dann stellte sie sich eine Schere vor, mit der sie den Schnuller in die einzelnen Leuchtatome zerschnitt, aber sofort vereinigten sich die Leuchtatome wieder. Sie klatschte in die Hände, wie das Wesen in der ersten Vision, aber es geschah nichts. Sie dachte sich noch viele andere Methoden aus, die Atome zu befreien, aber es ging nicht.
So schaute sie sich die Dinge an, die sie vor dem Weggang verschenkt hatte. Ihre Gitarre gehörte nun jemand anderem, aber wenn sie hin fühlte, gehörte sie geistig immer noch ihr, und damit waren auch die Leuchtatome noch gebunden. Auch all die anderen Dinge, die sie weggegeben hatte, alle waren noch da, gehörten noch ihr. Wie sollte sie es schaffen, diese Atome zu befreien? Dann dachte sie an all die im Dorf und auch daran, dass all die älteren schon auf der Hütte gewesen waren und scheinbar erfolgreich diese Aufgabe gelöst hatten. Sie ging alles noch mal in Gedanken durch und hoffte, auf einen Hinweis zu stoßen, der ihr Bewusstsein in die richtige Richtung lenkte. Da, da war es! Was sagten die Ältesten, als sie mich umarmten?
„Wenn Du nicht mehr weiter weißt, lasse alle Gedanken ruhen und wisse dich von mir geliebt.“
Und sie versuchte, alle Gedanken ruhen zu lassen und wollte sich in das Geliebt sein hineinspüren. Es fielen ihr viele Situationen ein, in denen sie mit den grünen Leuchtatomen das Gefühl gespeichert hatte, geliebt zu sein. Je mehr sie in solche Situationen hineinspürte, umso besser ging es ihr. So fühlte sie sich frei und glücklich, und dieses Gefühl bewirkte etwas Besonderes. Der Deckel der siebenten Truhe war von Anfang an geöffnet, und es fand ein reger Austausch von violetten Leuchtatomen statt, aber nicht so wie bei den anderen Truhen, dass sie darüber verfügen konnte, sondern es war ein Strom, der senkrecht nach oben ging oder von oben kam, je nachdem ob man ankommende oder abfliegende Leuchtatome beobachtete. Nun, durch dieses Gefühl der Liebe konnte sie nun auch über diese Leuchtatome verfügen. Es geschah etwas Wunderbares: Sie wurde ganz hell, fing selber an zu leuchten und erkannte, dass Gott und Christus sie unendlich lieben. Diese Liebe ist so stark, dass sie sie nicht lange aushalten konnte. Sie löste sich fast auf in dieser Energie und wusste gleichzeitig, dass sie einmal so stark sein musste, auch diese auszuhalten, in ihr aufzugehen. Auch war ihr klar, dass das, was sie erlebt hatte, nur ein ganz klein wenig von dem war, das sie später einmal erwarten wird. Vollkommen selig ging sie diesen Abend zu Bett und schlief wunderbar ein. In einem Traum erkannte sie, dass dies der Weg ist, alle Leuchtatome wieder zu befreien.
Am nächsten Tag wollte sie gleich wieder in dieses wunderbare Christuslicht eintauchen, aber es gelang ihr nicht, sie konnte es selbst nicht herbei zwingen. Auch die folgenden Tage versuchte sie es immer wieder, aber ohne Erfolg, bis sie ganz resigniert aufgab. Dann dachte sie an die anderen im Dorf, die es ja auch geschafft hatten, warum sollte es sie nicht auch schaffen? Da fiel ihr wieder ein, was ihr die Alten beim Abschied gesagt hatten: Wenn Du nicht mehr weiter weißt, lasse alle Gedanken ruhen und wisse dich von mir geliebt.
Ja, auf diese Liebe wollte sie sich besinnen und konnte sich schnell einstimmen. Bald schon waren ihre Gefühle so von Liebe durchtränkt, dass sie nur noch lächelnd in dieser Stimmung verweilen wollte. Wie schon das erste Mal geschah wieder dieses Wunderbare, sie wurde ganz hell, fing selber an zu leuchten und erkannte, dass Gott und Christus sie unendlich lieben.
Nun wurde ihr auch klar, dass sie selbst die Vorbereitung treffen musste, damit das Licht sie nicht schädigte. Hätte sich diese Energie eingestellt, ohne dass sie sich vorher in diese selige Stimmung versetzt hätte, es wäre zu viel gewesen. Dieses Licht verwandelte sie jedes Mal ein wenig mehr, auch konnte sie in diesem Zustand die Atome befreien. Die orangen Leuchtatome aus ihrem Schnuller lösten sich ganz leicht in dem Augenblick, wo sie empfand, dass sie so glücklich war und geliebt wurde, auch ohne den Schnuller. Viele Dinge löste sie auf, und es fiel ihr nicht schwer, doch manche waren dabei, die konnte sie trotz dieses Lichtes und der wunderbaren Energie nicht auflösen. Eines davon waren die Leuchtatome, die ihren Körper ausmachten. Sie würde sterben, und das wollte sie nicht. Also versuchte sie nach Lösungen zu suchen, wie sie es schaffen konnte, diese Leuchtatome beizubehalten. In einer Schau wurde ihr einmal gezeigt, dass ihre Schöpfungen vom Körper nicht hundertprozentig richtig sind, weil sie zum Zeitpunkt des Erschaffens nicht den gesamten Überblick hatte. Es ging sogar so weit, dass kein Augenblick der richtige sei und sich immer Fehlinformationen einschleichen, egal wie weit man alles überblicken kann. Bei dieser Schau wurde ihr auch gezeigt, wie sie durch eine falsche Vorstellung beim Aufbau ihres Körpers später einmal krank werden wird, sogar so krank, dass dieser Körper nicht mehr lebensfähig ist. In ihrer Not und im Angesicht des kommenden Todes gab sie sich vollkommen Gott und Christus hin und starb. Gerade im dem Augenblick, wo sie endgültig den Körper verlassen wollte, erfüllten sie unendlich viele violette Leuchtatome und heilten ihren Körper. Sie fühlte sich wie neu geboren.
Langsam erkannte sie, dass das Nichtauflösen der Atome eine Vorstufe des Sterbens ist. Es ist immer alles mit Fehlern durchdrungen, egal was man schafft. Es ändert sich alles, ständig. Löst man etwas nicht auf, wird es alt und mit der Zeit unrichtig. Was für sie als Baby richtig war, hinderte sie schon im Kindesalter, noch mehr in der Jugend und erst recht als Erwachsene. Sie erkannte auch, dass viele Erwachsene, die nicht zur Gemeinschaft gehörten, noch nach Baby-Mustern lebten und dass sie aus diesem Grunde sehr unglücklich waren. Sie alle lebten hauptsächlich in den ersten drei Energien, riechen, schmecken und Macht ausüben. Lieben, (Zu)Hören und Seins Erfahrung waren ihnen vollkommen fremd.
All diese Gedanken bewogen sie, nun endlich auch zu sterben, alle Leuchtatome zu befreien, die mit ihrem Körper zu tun hatten. Auf der einen Seite hoffte sie, zu überleben und auf der anderen Seite war sie sich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht doch sterben würde.
Auf jeden Fall bereitete sie sich vor, an diesem Abend die Körperatome freizugeben. Sie stimmte sich wieder auf das Licht und diese wunderbare Energie ein und bald schon hatte sie Verbindung damit. Gedanklich nahm sie Abschied von allen, die sie kannte, zu jedem ging sie in Gedanken und drückte ihn noch mal fest und verabschiedete sich dann. Bei manchem spürte sie ein tiefes Ziehen in der Brust, das aber gerade noch auszuhalten war, als sie jedoch zu ihrer Mutter ging, um sich zu verabschieden, hatte sie das Gefühl, als würde man ihr das Herz herausreißen. Sie schrie sogar, so heftig war der Schmerz. Also ließ sie locker und erholte sich, um es noch einmal zu probieren. Auch dieses Mal gelang es ihr nicht, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Nochmals und nochmals machte sie einen Anlauf, immer ohne Erfolg. Dann probierte sie es mit ihrem Vater, auch da ging es nicht, es stellte sich ein Schmerz ein, als würde man ihr das Herz herausreißen.
Sie hielt dann inne, denn jeder Versuch war so anstrengend und schmerzhaft, dass sie einfach eine Erholungszeit abwarten musste. Dass Liebe so weh tut? Manchmal hatte sie geschrien wie ein weidwundes Tier.
In ihrer Not wandte sie sich an das Licht, in dem sie Christus spürte und fragte, warum sie nicht loslassen konnte. Das Licht gab ihr die Antwort. Zwischen dir und deinen Eltern und später auch deinen Kindern besteht echte göttliche Liebe, sie sind ein Teil von dir und du von ihnen, diese Verbindung ist durch nichts aufzulösen oder zu trennen. Du kannst es hunderttausendmal versuchen, der Schmerz in deinem Herzen wird immer gleich heftig sein.
So versuchte sie es nicht mehr, sich von ihren Eltern zu trennen, da sie ein Teil von ihr waren, sondern sagte nur, dass sie nun die Atome des Körpers befreien wird und sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, denn sie seien in göttlicher Liebe verbunden.
Dann war sie so weit: „Ich bin bereit zu sterben“, sagte sie zum Licht und im gleichen Augenblick schrie sie wieder wie ein weidwundes Tier. Es war, als würde man ihr das Herz herausreißen. Es tat so unendlich weh, es war nicht auszuhalten, dieses Gefühl war mehr, als sie ertragen konnte. So hielt sie inne, um sich vom Schmerz zu erholen und fragte das Licht, was nun sei. Das Licht antwortete: „So, wie du deine Eltern liebst und ein Teil von ihnen bist, so liebe ich dich, weil du ein Teil von mir bist. Du wirst niemals gehen können, du bist unendlich geliebt“. Und wieder schwang eine Welle der Liebe in ihr Herz, dass sie meinte, es würde wieder herausgerissen, aber dieses Mal war es milder, unendlich weit und tief und vollkommen. Dieses Gefühl, vom Licht geliebt zu werden, durchdrang sie so vollkommen, dass sie ihre Identität vollkommen vergaß. Sie war geliebt, so unendlich von Christus ihrem Meister, sie war ein Teil von ihm. So ging sie vollkommen auf in diesem Gefühl und dieser Kraft, und plötzlich – war es nach Stunden? – gab es wieder ein so tiefes Ziehen in ihrer Brust, dass sie es fast nicht ausgehalten hätte. Eine Stimme sagte dann zu ihr, oder war es doch keine Stimme, nur ein gewaltiges inneres Wissen: „Christus ist ein Teil aus meinem Herzen, ich werde ihn ewig lieben, nichts kann diese Liebe zerstören. Du bist ein Teil aus dem Herzen Christi und wirst ewig geliebt sein, nichts kann diese Liebe zerstören.“ Es war unbeschreiblich, zu spüren, unendlich und ewig geliebt zu sein. Ihre Tränendrüsen waren schon ausgetrocknet, der Körper gab keinen Tropfen mehr her, so viel hatte sie in diesen letzten Stunden geweint und trotzdem hatte sie den Eindruck, als müsse sie zerfließen. Es war so schön, schmerzhaft schön. Während diese zweite Stimme zu ihr gesprochen hatte, fühlte sie sich mitten im Universum, fühlte alles ist gut, fühlte sich verbunden mit allen Menschen, mit der ganzen Schöpfung. Gleichzeitig nahm sie alles wahr, von der kleinsten Ameise im bayerischen Wald, bis zum vergessensten Kometen im Weltall. Alles war gegenwärtig, Vergangenheit und Zukunft, alle feineren und alle dichteren Welten. Sie war der Kosmos.
Als sie wieder ihr Bewusstsein auf der Bank vor der Hütte erreicht hatte, wusste sie nicht, ob das ganze sechs Stunden oder hundert Jahre gedauert hatte. Sie war geliebt, das wusste sie mit einer Gewissheit wie es keine zweite gab. Jeder Zweifel war ausgeschlossen, sie wird geliebt, egal ob sie alt oder jung, tot oder lebendig ist, sie wird geliebt.
So ging sie zu ihrem Nachtlager und schlief auch sofort ein.
Am nächsten Tag war sie noch so erschüttert von dieser Liebe, dass sie sofort anfing zu weinen, wenn sie auch nur ein klein wenig daran dachte. Sie machte lange Spaziergänge in den Wäldern, um sich wieder zu erholen. Diese Energie war so mächtig, dass sie sich erst langsam wieder an die dichte Form des Körpers gewöhnen musste. Nach und nach gelang ihr das besser und so setzte sie sich wieder einmal auf die Bank, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Das Licht und die Energie waren wieder weiter weggerückt und sie war auch ein wenig froh darüber, denn ständig aus den Schuhen gehoben zu werden, ist auf die Dauer doch sehr anstrengend. Auch wusste sie, dass dieses Erlebnis nicht ständig in dieser Form aufrechterhalten werden kann, denn dann hätte sie keine Existenzmöglichkeit mehr als Mensch auf dieser Erde.
Heute nun bildete sich wieder eine Vision und sie sah das Wesen der ersten Vision wieder, aber nicht mehr traurig, sondern freudig, schöpferisch tätig. Immer wieder erschuf es etwas Neues, um nach einer Zeit des Genießens das Geschaffene wieder aufzulösen. Die Truhen waren voller Leuchtatome.
Was sie wunderte war, dass aber nun nicht sieben Truhen um das Wesen standen, sondern gleich zwölf. Hatte sie die fünf weiteren damals übersehen? Heute wollte sie sich den Kopf darüber nicht zerbrechen. Sie wusste, sie hatte es geschafft, alle Atome waren befreit.
Sie stellte fest, dass sie Dinge vollbringen konnte, die sie sich vorher nicht einmal hätte träumen lassen. Ein schwerverletztes Reh, das gerade am Sterben war, konnte sie spontan heilen. Sie hatte aus all den frei zur Verfügung stehenden Leuchtatomen ein Energiefeld erschaffen, das das Reh sofort gesund aufspringen ließ. Das Reh kam dann auf sie zu und drückte sich mit dem ganzen Körper längsseits an sie, dass sie kräftig dagegenhalten musste, um nicht umzufallen. Das Reh begleitete sie zur Hütte und auf einmal merkte sie, dass sie mit dem Reh sprechen konnte. Das Reh wurde eine gute Freundin und ging später sogar mit ins Dorf hinunter. Die zwei Monate, die sie auf der Hütte sein sollte, waren nun bald zu Ende und sie freute sich schon auf den Nachhauseweg und all die lieben Freunde im Dorf.
Sie hatte auch viele andere Fähigkeiten erhalten, die sie unbewusst einfach einsetzte. Einmal bei einem Gewitter brach der Sturm einen Baum um, der genau auf die Hütte gefallen wäre. Sie konnte durch die Wände der Hütte schauen und den Baum im Flug aufhalten. Es sah komisch aus, als sie am nächsten Tag ins Freie ging und den Baum immer noch in der Luft hängen sah, so wie sie ihn gestoppt hatte. Spontan musste sie hellauf lachen, hatte sie doch in der Nacht geglaubt, dass dies nur ein Traum sei. Nun musste sie versuchen, den Baum auf die Erde zu bringen, ohne nachträglich die Hütte zu zerstören. Es war ausgesprochen schwierig. In der Nacht hatte ein Gedanke oder Gefühlsimpuls genügt, um den Baum zu stoppen, nun aber, wo sie es bewusst machen musste, war es sehr schwierig.
Bis zu ihrem Abschied von der Hütte schaute sie sich jeden Abend den Sonnenuntergang an. Immer konnte sie auch sich selbst sehen und ihre Truhen mit den Leuchtatomen. Sie sah auch, dass sie ständig über die violetten Leuchtatome mit dem Licht verbunden war. Jeden Augenblick wurde sie erneuert, nichts Altes, Abgestandenes war mehr in ihrem Körper, kein Leuchtatom war mehr notwendig, um die Gesundheit aufrechtzuerhalten.

Als sie den Weg zurück zum Dorf antrat, stellte sie fest, dass das Fastengewand, das man ihr geliehen hatte, verschwunden war. Stattdessen hatte sie ein wunderschönes Kleid an und feine Schuhe. Sie wusste nicht, wie das geschehen war, wunderte sich aber mittlerweile nicht mehr darüber, sondern schritt fröhlichen Schrittes auf das Dorf zu.

    • Petra Zimber am 3, März 2019 um 12:11

    Antworten

    Liebes Wu-Wei Team,
    Herzlichen Dank für die wunderschöne und berührende Geschichte. Ebenso für das wundervolle Geschenk zur Weihnachtszeit, das ich von Ihnen in Form des Buches, erhalten habe.
    Die guten und heilbringenden Bonbons haben mich gesund durch den Winter gebracht. Danke auch hierfür.
    Mit lieben Herzensgrüßen
    Petra Zimber

    • Monika Rudolph am 4, März 2019 um 10:48

    Antworten

    Eine schöne Geschichte! Danke!

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