2. Teil Kathi – Der Abschied

2. Teil

Der Abschied

„Einen wahren Menschen erkennt man an dem, was er nicht mehr braucht“.
Diese Worte standen auf dem Schild zur Beratungshütte der Erwachsenen. Kathi durfte seit ihrem Erlebnis mit dem Holzstoß an den Beratungen teilnehmen. Schon oft hatte sie über diese Worte nachgedacht und sich auch so manchen Sinn dazu überlegt. Nun stand jedoch eine ganz besondere Zeit vor ihr. Sie sollte nicht nur anwesend sein dürfen bei den Beratungen, sie sollte sogar ein Stimmrecht erhalten.
Es war ein besonderer Abend, festlicher als normale Beratungen, es lag ein Zauber, fast so wie vor der Bescherung in der Luft. Kathi war aufgeregt. Was würde auf sie zukommen? Man würde sie vielleicht loben, weil sie doch schon so klug, so erwachsen war. Vielleicht würden ihre Handarbeiten besonders hervorgehoben – sie konnte am schönsten weben, oder sollte sie gar vorsingen?
Endlich war es so weit: Die Älteste der Runde stand auf und begann mit fester, klarer Stimme zu sprechen: „Meine Lieben, immer wenn eines unserer Kinder sein Stimmrecht erhalten hat, war es auch für uns der Anlass, nochmal zu überdenken, ob wir noch die Voraussetzungen für unser eigenes Stimmrecht erfüllen. Darum spreche ich nicht nur für Kathi alleine, sondern für jeden von uns, auch für mich selbst. Das Stimmrecht erwirbt man nur als wahrer Mensch, in dem Sinne, wie es unser Spruch über der Türe zum Ausdruck bringt. Ihr wisst alle, wie schwer es war, die Spielsachen der Kindheitstage und der Jugend aufzugeben – und wie glücklich waren wir, als es geschafft war. Die Belohnung war das glückliche Lachen der Kleinen, die sich über unsere Geschenke gefreut haben. Als dann die Kleinen kamen und uns baten, mit ihnen zusammen zu spielen, erkannten wir, dass wir reicher geworden waren, obwohl uns das Spielzeug nicht mehr gehörte.
Gemäß unserer Tradition wird auch Kathi auf die Berghütte gehen, nachdem sie alles, was sie ihr Eigen nennt, verschenkt hat. Mit keinerlei Besitz, nur mit dem Fastengewand der Gemeinschaft wird sie losgehen und erst wiederkommen, wenn sie weiß, dass sie alles, auch innerlich, losgelassen hat. Wir wissen, dass diese Zeit zu der wichtigsten in unserem Leben gehört, und viele aus unserem Kreise ziehen sich immer wieder eine Zeit zurück, um zu überprüfen, ob wirklich noch alles losgelassen ist.
Kathi wird sehr schnell erkennen, dass das Loslassen von materiellen Dingen sehr schnell und einfach gehen wird. Sie wird sich aber dann erinnern, dass wir hier noch über mehr gesprochen haben, über Dinge, die sie nun zwar hört, aber noch nicht versteht. Nachvollziehen kann sie nun noch, dass man von schlechten Gewohnheiten loslassen will. Schwieriger wird es schon, wenn sie erkennt, dass das Loslassen selbst schon wieder eine Gewohnheit geworden ist, und es erscheint ihr heute paradox, dass man das Loslassen loslassen kann.
Noch schwieriger wird es werden, wenn sie erkennt, dass Familienbindungen bestehen, dass sie ihre Eltern, Geschwister, Freunde – und auch unliebsame Menschen loslassen muss. Ihr alle kennt die ganzen „wenn“ und „aber“, die vermeintlich unüberwindbaren Grenzen.
Das Schwierigste ist aber, sich selbst loszulassen. Manche haben gemerkt, dass sie eine narzisstische Liebe daran hinderte; andere spürten, dass sie sich selbst hassten. Beides ist ein großes Hindernis auf dem Weg, sich loszulassen und doch muss es sein, will man der Tradition unserer Gemeinschaft folgend wu-wei praktizieren. Sterben, um zu leben.
Wu-wei, das „Handeln durch Geschehen lassen“ wird sehr oft von Außenstehenden nicht richtig verstanden, aus dem Grund, weil diese Außenstehenden nie gelernt haben loszulassen. Sie glauben, dass „Geschehen lassen“ Untätigkeit ist. Gerade das Gegenteil ist der Fall, wie wir wissen. Uns lähmen keine Ängste etwas zu tun, wir nehmen nicht Rücksicht auf andere Meinungen, wir tun, was wir im Augenblick in unserem Innersten als richtig empfinden. Die Außenstehenden haben oft schon Probleme, „nur“ ihre Meinung offen und ehrlich zu sagen, weil man ja jemand verletzen könnte. Wir wissen, weil wir alles losgelassen haben, dass wir immer alles ehrlich und offen sagen können. Wir können nichts verlieren, sondern gewinnen gerade aus diesem Grund.
Trotzdem schweigen wir sehr oft, weil wir auch den Zwang losgelassen haben, immer unsere Meinung zu sagen. Ja, ich habe schon bei jedem von euch den hellwachen und neugierigen Blick gesehen: „Was wird nun kommen? Was wird uns auf der Bühne des Lebens nun vorgespielt?“ Dieses neugierige, schweigende Warten entbindet uns von vorschnellem Gerede. Wir sind jeden Augenblick frei, all unsere Kraft zu entfalten. Keine Energiewolke des Beleidigt seins oder der Angst vernebelt unsere Gedanken oder unseren Blick. Gerade weil wir uns nichts vormachen und uns nicht mit energetischen Wolken einnebeln, sehen wir mehr als andere.
Jeder aus unserer Gruppe ist in der Berghütte schon gestorben. Nicht richtig, aber in seiner Vorstellung. Jeder ist in seinen Vorstellungen schon über den eigenen Tod hinausgegangen, war auf seinem eigenen Begräbnis, hat sich in die Hinterbliebenen hineingefühlt und weiß, was ihn erwartet. Der echte Tod verliert dadurch seinen Stachel, und jeder von uns ist jeden Augenblick bereit zu sterben. Das ist auch der Grund, warum wir jeden neuen Tag unseres Lebens besonders schätzen, jede Stunde ist für uns wertvoll.
Für Kathi beginnt nun eine schwere Zeit, und ich möchte dir, liebe Kathi, mein Geheimnis anvertrauen, das dir helfen wird, wenn dein Verstand nicht mehr weiterkommt und du schon fast am Verzweifeln bist.“
Die Älteste stand auf und ging auf Kathi zu, nahm sie in die Arme und drückte sie fest und doch gefühlvoll lange Zeit, und jeder spürte, dass sie durch dieses Nichtssagen noch viel mehr sagte. Dann lockerte sie den Griff und sprach ihr leise ihr Geheimnis ins Ohr. Es war jedoch noch so laut, dass es jeder im Raum deutlich hören konnte:

„Wenn Du nicht mehr weiter weißt, lasse alle Gedanken ruhen und wisse dich von mir geliebt.“

Nachdem sich die Älteste wieder gesetzt hatte, kam der Älteste, umarmte Kathi lange und sprach sein Geheimnis leise in ihr Ohr:

„Wenn Du nicht mehr weiter weißt, lasse alle Gedanken ruhen und wisse dich von mir geliebt.“
So ging einer nach dem anderen zu Kathi, jeder drückte sie lange und vertraute ihr sein Geheimnis an, das immer gleich lautete:

„Wenn Du nicht mehr weiter weißt, lasse alle Gedanken ruhen und wisse dich von mir geliebt.“

Noch lange klang der Satz in Kathi nach, auch standen ihr Tränen in den Augen, als sie all ihre Habe verschenkte. Bekleidet mit dem Fastengewand der Gemeinschaft gab sie alles weg: ihre liebsten Spielsachen, den Webstuhl, ihre Rezepte, alle Kleider, die sie so schön bestickt hatte und auch ihre Gitarre, mit der sie so oft und gerne gespielt und dazu gesungen hatte. Sie gab alles wie mechanisch weg, wollte in der Hütte erst wieder Stille finden und vielleicht darüber nachdenken.
Sie hatte erwartet, dass sie gelobt würde, und stattdessen soll sie alles weggeben, was ihr lieb und teuer war. Warum bestrafte man sie so? Sie verstand es nicht, und wenn nicht die leise Stimme in ihrem Herzen immer und immer wieder gesagt hätte: „Es ist gut so, du wirst sehen“, dann hätte sie das alles nicht übers Herz gebracht.
Die Berghütte und der Weg zu ihr waren ihr bekannt. Als sie sich vom Dorf entfernte, schaute sie nicht mehr zurück. Hätte sie sich umgewandt, hätte sich ihr ein wunderbares Bild gezeigt. Jeder Bewohner des Dorfes war gekommen und winkte ihr nach. Selbst als sie nicht mehr zu sehen war, blieben die Leute noch stehen und unterhielten sich lange über das, was Kathi nun bevorstand und was sie schon hinter sich hatten.

Wird auch Kathi von alleine auf die sieben wichtigsten Dinge kommen, die es gilt loszulassen?
Wird sie eine andere sein, wenn sie zurückkommt?
Wird sie in der Gemeinschaft bleiben, oder wie so viele vor ihr den Weg in die weite Welt suchen?
Mit der Zeit wurde es wieder stiller, jeder dachte an all die Ausgezogenen; wie mag es wohl Laura, wie Hans oder Maria gehen? Sind für Heiko die 18 Jahre, die man in der Welt draußen lernt, bald um, wird er zurückkommen?

So viele Fragen waren plötzlich bei jedem offen, und man erkannte, dass die Tradition, beim Hüttengang einen Tag der Stille einzulegen, sehr gut war. Jeder wusste, dass all die inneren Fragen keine Antwort finden werden, sondern der Anfang eines negativen Strudels sind, der einen immer weiter und weiter nach unten zieht und die Aufmerksamkeit bindet. Ihre Aufgabe war es nun, in der Stille jede Frage nochmal anzuschauen, zu sagen, es ist gut. Mit einem lichtvollen Impuls wird die Frage dann losgelassen und man ist wieder frei.

 

Teil drei nächste Woche…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.