Für Schneeflocken
In einer großen, schweren Wolke waren unendlich viele Wassermoleküle, doch nicht so dicht, dass sie sich nicht hätten bewegen können. Sie wurden von Luftwirbeln geschoben, gedrängt. Wie in einem spielerischen Tanz trieben sie umher. Alle waren glücklich und zufrieden. Doch plötzlich, man wusste nicht woher es kam, aber es war in aller Munde: „Wir wollen unsere Individualität erfahren“, „Wir wollen sein“. Es wurde immer lauter, immer drängender. Sie vergaßen die Einheit, das schöne Gemeinsame, den Tanz mit den Lüften, die Harmonie. Je mehr sie es vergaßen, umso kühler wurde es, und je kühler es wurde, umso lauter war das Rufen: „Wir wollen uns erfahren“, „Wir wollen wissen, wer wir sind“. Es war ein Teufelskreis, je lauter sie schrien und forderten, umso kälter wurde es, immer kälter und dadurch das Rufen noch drängender: „Wir wollen uns verwirklichen“. Jedes einzelne Wasser Tröpfchen hatte eine ganz eigene Vorstellung von sich. Jedes wollte so sein, wie es die Vorstellung von sich hatte. Da geschah es: Es war so kalt, dass sie erstarrten. Starr und steif fanden sie Ausdruck in einem Kristall, in einem Eiskristall. Jedes Kristall war anders. Jedes hatte ein anderes Muster, andere Spitzen, war anders geformt. Es schien, je nachdem wie diese Wassermoleküle gedacht hatten, so formte sich das Muster des Kristalls. Ja man konnte sagen, jedes Kristall brachte genau das zum Ausdruck, was es war. Immer mehr Kristalle mit ähnlichen Wünschen, mit ähnlichen Neigungen fanden sich zusammen. Doch sie waren so starr und stachelig, dass sie sich nicht nahekommen konnten. Auch waren sie teilweise ineinander verwachsen, miteinander verbunden, sie konnten sich nicht trennen. So piksten und stachen sie sich gegenseitig. Sie schrien sich an: „Geh weg, ich will mich erleben, ich will sein.“ Und je mehr sie schrien und sich gegenseitig abstießen, umso härter wurden sie. Dabei merkten sie nicht, dass sie mit ihren Spitzen, die sie rundum hatten, die anderen verletzten und den anderen wehtaten. Sie spürten nur wie die Stacheln und Spitzen der anderen sie piksten und stachen. So war es ein Geschrei und ein Gebrüll. Doch langsam löste sich alles auf, die Wolke platzte, und es fing an zu schneien. Jetzt waren die Kristalle glücklich, sie schwebten frei in der Luft und jubelten: „Schau nur, wie herrlich wir sind, wie schön wir sind. Sind unsere Eigenarten nicht wunderbar anzuschauen? Glitzern wir nicht in der Sonne? Ach, wie sind wir glücklich, wie sind wir herrlich. Endlich sind wir wer. Wir erkennen uns. Wir sind Eiskristalle. Wir brauchen Platz, denn wir haben Stacheln und Spitzen, schön angeordnet. Wir sind herrlich.“ Und so jubelten sie und freuten sich und schwebten dabei langsam zu Boden. Beim Abwärtsschweben kamen sich Eiskristalle näher, doch störten sie sich nicht mehr aneinander, sondern hielten sich gegenseitig im Spiel fest. Lockere Verbände waren es, und so erschien es dem Betrachter, dass Schneeflocken runterfallen, bestehend aus lauter einzelnen Kristallen, die sich locker aneinander halten. So gab es größere und kleinere Flocken, und alle schwebten dahin, wie Familien. So kamen sie nach unten. Doch der Flug von der Wolke bis zum Boden dauerte nicht lange. Viel zu schnell, viel zu kurz war er. Sie setzten ganz sacht, watteweich auf dem Boden auf. Aber schon in diesem Augenblick hörten sie unter sich andere Schneeflocken, andere Kristalle schreien: „He, ihr da oben, geht weg, ihr nehmt uns das Licht, ihr drückt uns zusammen, wir zerbrechen, unsere schönen Spitzen brechen ab, geht weg.“ Das Geschrei unter ihnen wurde immer lauter und sie erwiderten: „Wir können doch nichts dafür, wir müssen doch landen, wir können nicht immer in der Luft bleiben.“ Aber das Geschrei unter ihnen wurde immer lauter. Man hörte es knirschen und knacken, als einzelne Kristalle und Zacken brachen. Es war furchtbar. Ihnen lief es eiskalt über den Rücken. Und plötzlich setzte sich auf sie drauf eine ganze Gruppe von Eiskristallen. Eine riesengroße, dicke Schneeflocke saß auf ihnen, und sie fingen sofort an zu schreien und zu zetern: „He, ihr, geht weg, wir wollen nicht, dass ihr auf uns sitzt.“ Aber die beteuerten: „Wir wollen doch nicht auf euch drauf, aber wir müssen runter, wir können nicht ewig in der Luft bleiben.“ Und so ging es immer weiter und immer neue Schneeflocken setzten sich oben drauf. Sie merkten, wie sie zusammengedrückt wurden, wie es weh tat, wie sie sich stachen und piksten, doch sie konnten es einfach nicht ändern. Sie waren ganz verzweifelt und sehnten sich so sehr nach ihrem Zustand in der Wolke zurück, als sie noch keine Eiskristalle waren, als sie noch frei und ungebunden waren, als sie sich noch so nahe sein konnten, als sie sich nicht stachen, als sie noch keine Stacheln hatten. Aber es half jetzt nichts. Sie waren hier, sie mussten stechen und wurden gestochen, sie konnten nicht aus. Das Jammern und das Leid schien kein Ende zu nehmen. Nach langer Zeit fühlten sich ein paar dieser Schneeflocken gehoben. Es war, als würde sie jemand in die Hand nehmen. Es wurde wieder heller und die Last der anderen Schneeflocken wurde geringer. Auch das Gejammer und das Gestöhne war nicht mehr so laut und es schien ihnen, als würde sie jemand ansehen. Sie spürten einen warmen Luftzug, und sie fingen an, leise zu jammern. Schmolzen sie doch dahin in dieser Wärme, verloren sie ihr ganzes Ich, ihr ganzes Sein. Leise fingen sie an zu flehen: „Bitte lass uns, wir verlieren uns doch sonst, wir sind doch sonst niemand mehr.“ Und der, der sie in der Hand hielt, schaute sie mit einem liebevollen Blick an und schien sich nicht um ihr Bitten zu kümmern. Er hauchte sie weiter an. Die obersten Kristalle, die dem Hauch am nächsten waren, hatten schon alle Spitzen verloren, ganz glasig, ganz wässrig, wie eine große Träne sahen sie aus, und schwupp da fiel auch schon der erste Tropfen von geschmolzenen Kristallen zu den anderen hinunter, die sich noch so gegenseitig fernhielten mit ihren Stacheln. Und dieser erste Tropfen legte sich zwischen zwei Kristalle und füllte den Zwischenraum aus. Es war schlimm für den Tropfen, war es doch so schön, geschmolzen zu sein… und jetzt zwischen zwei so stacheligen Gesellen. Der Tropfen spürte die Kälte, die die Kristalle ausstrahlten, und er hatte Angst, selbst wieder zu erstarren. „Nein, ich will kein Eiskristall mehr werden, ich will geschmolzen bleiben. Als Tropfen muss ich nicht mehr verletzen, kann ich viel liebevoller sein und wärmer.“ Diese Gedanken bewirkten, dass auch die beiden Eiskristalle zu schmelzen anfingen. Als erstes schmolzen ihre schärfsten Spitzen, und nach und nach wurden sie ganz und gar wässrig. Dieses Schmelzen erlebten sie als leidvoll, sie befürchteten, dass sie sich selbst verlieren, dass sie vergehen würden. Mit der Zeit wurden sie immer wässriger, und ihr ganzes Ich, ihre Form, ihr Ausdruck, alles was sie waren, löste sich auf. Mit einem kleinen Schwupps verschwanden die beiden Eiskristalle, und der Tropfen war ein klein wenig größer geworden. Nun waren sie glücklich, nun konnten sie dichter beieinander sein, fühlten eine Einheit, eine Freude. Mit der Zeit war das ganze Häufchen Schnee in der Hand geschmolzen. Geschmolzen zu einer kleinen Wasserlache. Nichts mehr, aber auch gar nichts mehr war zwischen ihnen. Nichts hielt sie voneinander ab. Sie konnten sich begegnen, so nah es nur möglich war. Ihre Seelen berührten sich in einer Ähnlichkeit, in einer Dichte. Nichts, aber gar nichts mehr fanden sie schmerzvoll oder unerträglich am anderen. Alles was sie trennte, war dahingeschmolzen. Alles, was vorher ihren Charakter, ihren Zustand ausmachte, war weg. So konnten sie sich lieben und achten und sie wunderten sich, wie schön es war, nicht mehr verletzen zu müssen, wie schön es war, alles aufzugeben, was man vorher für so gut gehalten, was man vorher so verteidigt hatte. Nun fragten sie sich, wer sie so geschmolzen hat, wer ihnen diese Erlösung, diese Befreiung gebracht hat? Diese Gnade, sich so nahe begegnen zu dürfen? Da ging die Antwort durch die Reihen, dass es Jesus Christus gewesen sei, der sie persönlich in die Hand genommen hat, der sie ganz persönlich geschmolzen hat, befreit hat von allem, was sie voneinander getrennt hatte. Glücklich über diese Botschaft blieben sie ruhig in seiner Hand liegen. Die graue Wolkendecke schob sich auseinander, und es tat sich der Himmel auf, ein Sonnenstrahl traf den kleinen See in der Hand, brach sich darin und spiegelte die Schönheit der gesamten Schöpfung.
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